Peter Kampits
Der Wiener Kreis
Man hat in der Tätigkeit und den Lehren des "Wiener Kreises" eine Kulmination jener realistischen, empirischen und auch sprachkritischen Orientierung gesehen, die innerhalb der deutschen von Transzendentalphilosophie und Idealismus geprägten Entwicklung einen Kontrapunkt darstellt. Sofern man diese Auffassung nicht überspannt und monistisch überfordert, enthält sie auch sicherlich Gültiges und Wichtiges. Denn die Philosophie des "Wiener Kreises" hat sich in Wien und Österreich nicht als vom Himmel gefallener Fremdkörper eingenistet, sondern schließt durchaus an Voraussetzungen und Vorarbeiten des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts an.
Immerhin ist aber auffällig, daß sie, von bestimmten Querverbindungen abgesehen, innerhalb des großen Stromes deutschprachigen Philosophieren eine Besonderheit darstellt, die sich sogar als eine Art Enklave oder Außenseiterstellung kennzeichnen ließe. Dennoch empfiehlt es sich, gerade dieser Philosophie weder mit negativen noch mit positiven Vorurteilen gegenüberzutreten. So wenig man ihre zweifellos extrem einseitige Grundausrichtung zum Anlaß nehmen sollte, sich über ihre zeitweise dogmatische Wissenschaftsgläubigkeit zu belustigen, so wenig sollte man ihr andererseits eine Märtyrerrolle auf den Leib schreiben, die ihr trotz der zu einer Diaspora ihrer einzelnen Vertreter führenden Unterdrückung in der nationalsozialistischen Zeit einfach schon deshalb unangemessen bleibt, als sie bereits in den zwanziger und dreissiger Jahren keineswegs zu einem Schatten- oder Mauerblümchendasein verurteilt war.
Denn die meisten ihrer Repräsentanten waren in universitären, aber auch außeruniversitären Institutionen wohl verankert. MORITZ SCHLICK, der Inaugurator und die gewissermaßen alles zusammenhängende Führungsgestalt des "Wiener Kreises", war 1922 in Fortsetzung der Tradition der Physiker-Philosophen nach Wien berufen worden. 1924 rief er eine informelle Donnerstagabendrunde ins Leben, an der hauptsächlich Philosophen und Naturwissenschaftler, später aber auch Nationalökonomen und Juristen teilnahmen und die sich als "Wiener Kreis" baldige Berühmtheit verschaffte.
1928 wurde von mehreren Teilnehmern der "VEREIN ERNST MACH" gegründet, der sich unter anderem auch für die Popularisierung der Ideen des "Wiener Kreises" im Rahmen der damals in Hochblüte stehenden Volksbildung einsetzte, und 1929 erschien die Programmschrift "Wissenschaftliche Weltauffassung - Der Wiener Kreis", verfaßt von dem Mathematiker HANS HAHN, dem Philosophen RUDOLF CARNAP und dem Universalgenie OTTO NEURATH, den auch politisch auf seiten der Sozialdemokratie aktivsten Mitgliedern dieser Runde.
Die kämpferische Grundhaltung dieser programmatischen Streitschrift ist ebenso aus dem zeitbedingten ideologischen Klima zu verstehen, wie sie andererseits auf dieses zurückwirkte. SCHLICK selbst freilich stand diesen Aktivitäten ehe distanziert gegenüber. Politisch als liberal -großbürgerlich einzustufen, hatte SCHLICK, der den Nationalsozialismus haßte, sich vergeblich bemüht, der Auflösung des "VEREINs ERNST MACH" durch die Behörden 1934 entgegenzuwirken. Immerhin hatte er 1933 an Bundeskanzler DOLLFUSS einen Brief geschrieben, in dem der eine begeisterte Zustimmung zu den Grundlinien der DOLLFUSSschen Politik äußerte und diesem seine Bewunderung für die Förderung und den Schutz geistiger Werte ausspricht.
In der genannten Programmschrift, deren Anlaß die Absage SCHLICKs einer Berufung nach Bonn bildete, sind jene Grundsätze formuliert, die für den "Wiener Kreis" charakteristisch waren. Sich ausdrücklich als "Wende" der Philosophie verstehend, tritt der "Wiener Kreis" für eine wissenschaftliche Philosophie ein und sagt der Metaphysik den Kampf an. Philosophie solll nicht "philosophische Sätze" aufstellen, sondern solche überhaupt erst klären.
Sie hat sich auf erkenntnistheoretische, logische und sprachkritische Analysen zu beschränken. Ihre Erkenntnisquelle ist die Erfahrung, ihre Methode die der logischen Analyse, ihr Ziel eine Einheitswissenschaft, die sich am Modell der Naturwissenschaften orientiert und von dort auch auf die Sozial- und Geisteswissenschaften übertragen wird. Alle Fragen, die den strengen Sinn- und Verifikationskriterien einer solchen Konzeption nicht genügen, werden aus der Philosophie entfernt, auch wenn sich viele Mitglieder des "Wiener Kreises" durchaus Fragen der Ethik oder Religion gegenüber als sehr offen erwiesen.
Zu ihnen zählte an erster Stelle der 1882 in Berlin als Sohn eines Fabrikbesitzers geborene MORITZ SCHLICK, ein Nachfahre des protestantischen Dichters und Publizisten ERNST MORITZ ARNDT. Wieder haben wir einen Nichtösterreicher vor uns, der verschiedene Ansätze und bereitliegende Ideen zusammenfaßte, ihnen eine bestimmte Ausprägung gab und damit die Philosophie Österreichs anhaltend beeinflußte.
SCHLICK hatte zunächst bei MAX PLANCK in Berlin Physik studiert, fühlte sich aber zugleich schon früh von Fragen der Ethik und Ästhetik angezogen. Kurz nach seiner Dissertation verfaßte er ein kleines Büchlein "Lebensweisheit", das die Maximen des AUGUSTINUS zur Lebensregel erhebt. SCHLICKs Hochschätzung des Zweckfreien kommt in seinen Hinweisen zum Spiel zum Ausdruck, das er als die höchste, weil freieste Tätigkeit des Menschen ansieht.
Ebenso hoch setzt SCHLICK die Freude an, die nur aus einer solchen zweckfreien, um ihrer selbst willen geschehenen Tätigkeit entspringen kann und die dort, wo sie verwirklicht wird, den Sinn unseres Daseins offenbart. SCHLICK hat diese Sinnfrage nie ganz aus den Augen verloren, auch dort nicht, wo unter dem Postulat der Wissenschaftlichkeit der Philosophie derartige Fragestellungen aus ihr verbannt werden.
Auch hielt er sein Leben lang an einer Art Apotheose (Verherrlichung) der Jugend oder der Jugendlichkeit fest, die für ihn, weil eben zu reinster und tiefster Begeisterung befähigt, diesen Lebenssinn am deutlichsten offenbart. SCHLICK zeigte sich allem Schönen, den Künsten, der Musik und dem Spiel gegenüber äußerst aufgeschlossen und feierte dies mitunter in nahezu poetischen Wendungen: "Wir sind alle verhinderte Dichter", lautet eine seiner Aussagen im Zusammenhang mit diesen gleichsam intuitiven Zugängen zu unserer Daseinswirklichkeit.
Denn dieser auch in seiner Ethik weitergetragene Aufruf zur Freude, zur Lust und zur Begeisterung wird streng auf die Seite des Erlebens gebucht, von der das Erkennen und damit die Philosophie methodisch sauber abzuheben sind.
In seiner "Allgemeinen Erkenntnislehre" bekennt sich SCHLICK eindeutig zu einem empirischen Standpunkt. Er nimmt damit die Tradition der englischen Philosophie, besonders HUMEs, wieder auf und weist in seiner Auseinandersetzung mit KANT die Möglichkeit synthetischer Urteile a priori zurück. Erkennen ist für SCHLICK ein Bezeichnen der (empirischen) Tatsachen durch (logische) Urteile, das Wirkliche ist vornehmlich dadurch gekennzeichnet, daß es in der Zeit ist.
Damit weist SCHLICK nicht allein jedeweden Idealismus zurück, sondern auch den Sensualismus eines MACH oder AVENARIUS. Die Wirklichkeit kann nicht auf dasjenige eingeschränkt werden, was im Umfeld unserer Sinne und unseres Bewußtseins wahrgenommen wird. Denn die Wirklichkeit ist im Grund genommen das, worüber uns die Wissenschaft Auskunft zu geben vermag: Felder, Elektronen, Wellen, Unanschaulisches also, das aber gleichwohl erkannt zu werden vermag.
Von hier aus kann SCHLICK auch das die Philosophie seit langem beunruhigende Leib-Seele -Problem, dasjenige des Physischen und Psychischen, einer Lösung zuführen: Wir haben es hier nicht mit zwei Bereichen der Wirklichkeit zu tun, sondern mit zwei Weisen der Begriffsbildung. Was sich sowohl mit den quantifizierenden Methoden der Wissenschaft wie auch mit den anschaulichen Begriffen und Vorstellungen unseres Bewußtseins bezeichnen läßt, ist ein und dieselbe Wirklichkeit, wie sie unabhängig von uns besteht.
SCHLICKs Erkenntnislehre ist freilich alles andere als dogmatisch: Wohl wird in der Erkenntnis eine Einheit der Wirklichkeit angestrebt (was wirklich ist, ist auch der Bezeichnung durch quantitative Begriffe zugänglich), dagegen aber gibt es eine unendliche Fülle qualtativer Spielarten und Erscheinungsformen des Wirklichen. Auch wenn SCHLICKsich immer zu einer realistischen Position bekannte, hat ihn die weitere Entwicklung doch in die Nähe einer phänomenalistischen geführt, in der sprachkritische und logische Fragestellungen eine immer größere Bedeutung erhalten.
1922 folgte SCHLICK, der in Rostock gelehrt hatte, dem Ruf nach Wien, wobei in erster Linie der Mathematiker HANS HAHN die treibende Kraft gewesen war. Ohne seine in der "Erkenntnislehre" entwickelte Position grundsätzlich aufzugeben, konzentrierte sich sein Interesse immer mehr auf Probleme der Logik und der Sprache. Die Undeutigkeit und Vieldeutigkeit unserer Begriffe wird durch die Unklarheit der sprachlichen Zeichen, die sie repräsentieren, nur noch verschlimmert, wobei SCHLICK zunehmend die Metaphysik einer harten Kritik unterwirft und Erkenntnisgewinn immer mehr nur den Einzelwissenschaften zuerkennt.
Unter dem Einfluß RUSSELLs und FREGEs, später vor allem demjenigen WITTGENSTEINs, verschärft SCHLICK die Trennung von Erleben und Erkennen und spricht der Metaphysik jedwede Möglichkeit ab, zu einer gültigen Erkenntnis zu gelangen:
Unbeschadet der später auftretenden Differenzen - dem Streit etwa, ob Wahrheit nur aus dem logischen Zusammenhang von Aussagen ersehen werden kann oder zu diesem formalen Wahrheitsbegriff auch ein solcher der Beobachtung, also gleichsam eine empirische Verifikation treten muß - waren sich alle Mitglieder des Kreises darüber einig, daß die Philosophie als Metaphysik ausgespielt habe und durch ein streng wissenschaftliches Philosophieren ersetzt werden müsse.
Die Donnerstagsabendrunden zogen neben vielen Philosophen und Mathematikern, Naturwissenschaftlern und Juristen aus Wien bald auch viele Ausländer an. Neben dem Mathematiker HANS HAHN, RUDOLF CARNAP, OTTO NEURATH waren es vor allem die Mitglieder der jüngeren Generation, wie FRIEDRICH WAISMANN, HERBERT FEIGL und EDGAR ZILSEL, die die Prinzipien des "Wiener Kreises" auch auf universitärem Boden weitertrugen.
Schließlich sorgten Mathematiker wie KARL MENGER und Juristen wie FELIX KAUFMANN für eine Weiterverbreitung positivistischer Grundeinstellung. Die rechtspositivistische Schule eines HANS KELSEN oder OSKAR MORGENSTERNs Ökonometrie bauen zum Teil auf ähnlichen Grundauffassungen auf wie der "logische Positivismus" oder "konsequente Empirismus", wie man die Philosophie des "Wiener Kreises" auch bezeichnete, es gab aber kaum Anzeichen einer konkreten Zusammenarbeit.
OTTO NEURATH, der "politische Aktivist" der Gruppe, war auf vielen Gebieten tätig. Vielseitig talentiert, war er schon früh durch seinen Vater, der Professor an der Hochschule für Bodenkultur in Wien wurde, mit politischem Engagement vertraut gemacht worden. Sein Vater, WILHELM NEURATH, hatte sich auch schon zeitlebens für soziale Fragen engagiert und vertrat im Grund aufklärerische Gedanken mit dem Ziel, den modernen Proletarier aus seiner Ungebildetheit zu befreien.
OTTO NEURATH studierte zunächst Nationalökonomie, Philosophie und Geschichte und lehrte nach Abschluß seiner Studien vorerst in Wien an der Handelsakademie. Bereits während seines Studiums hatte er Dichter ediert und mathematisch -logische Arbeiten verfaßt. Forschungsreisen nach Galizien und auf den Balkan vor dem Ersten Weltkrieg gaben ihm einen profunden Einblick in die soziale Lage des Vielvölkerstaates Österreich-Ungarn.
1918 zum Direktor des Kriegsmuseums in Leipzig ernannt, wurde er Mitglied der bayrischen Nachkriegsregierung, später der Räteregierung in München und trotz vielerlei Differenzen zum Kommunismus - "Die Kommunisten sind mir viel zu blöd. Ich hab' sie erlebt, in München, in Moskau ... Leute die so dumm sind, können nicht Sozialisierung machen", war eine seiner stehenden Redewendungen - nach deren Sturz eingekerkert. MAX WEBER und auch OTTO BAUER, der österreichische Sozialistenführer, setzten sich für ihn ein, schließlich wurde er aus Bayern ausgewiesen und seiner Dozentur enthoben.
Nach einer Kampfschrift gegen OSWALD SPENGLERs "Untergang des Abendlandes" engagierte sich NEURATH in der Siedlerbewegung in Wien und gründete mit Unterstützung des Wiener Magistrates schließlich 1925 das Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum der Stadt Wien. Während dieser Tätigkeit entwickelte er die berühmt geworden, in einfacher Form jedem Bahnhofs- und Flugplatzbesucher längst vertraute Piktographie oder "Bildstatistik", die das Bildzeichen an die Stelle des Wortzeichens rückte.
Mit diesen bildlichen Symbolen, die er in einen systematischen Zusammenhang brachte und in der die alte schon von LEIBNIZ und DESCARTES verfochtene Idee einer Universalsprache zum Ausdruck kam, wollte NEURATH auch ein soziales Ziel verfolgen: Kinder und Arbeiter sollten über die gleiche Information verfügen können wie Angehörige gebildeter Schichten.
Vornehmlich auf dem Gebiet der Statistik hat NEURATHs Entdeckung weite Verbreitung gefunden. Daß er damit überdies jener Einheitswissenschaft vorarbeitete, die dem "Wiener Kreis" so sehr am Herzen lag, führte zu einer engen Zusammenarbeit mit RUDOLF CARNAP, der zeitweilig als schärfster Vertreter des Physikalismus gelten konnte, das heißt jener Auffassung, die jede Erkenntnis der Wirklichkeit mit den quantifizierenden Methoden der Physik erstrebte. Über die damit verbundene Reduktion der Sprache auf Mathematik hat sich später PAUL FEYERABEND lustig gemacht, wenn er, dieses Unternehmen parodierend, ausführt, daß künftig Kinder nicht mehr "Mama, ich bin müde" sagen würden, sondern: "Ich bin im Gehirnzustand Nr. 583 732."
So erbittert beid, der eher liebenswürdige und offene NEURATH und der auf logischer Strenge, Analyse und Formalisierung bestehende CARNAP, den man in seinem äußeren Typus am ehesten mit einem Logiker-Ingenieur vergleichen kann, die Metaphysik ablehnten, so sehr setzte sich aber auch NEURATH dafür ein, im Rahmen der neuen Einheitswissenschaft die ständige Revidierbarkeit der Sätze und Gesetze einzuführen. Damit wurde aber nur der Trend zum Kohärenzprinzip verschärft: Wahrheit oder Falschheit von empirischen Sätzen, Basissätzen oder auch Protokollsätzen erschöpft sich nicht in der Beziehung zur Realität, sondern bedarf der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung mit dem gesamten System der Aussagen.
1934 gründete NEURATH in Den Haag das sogenannte Mundaneum, das auch ein Instititut für die Einheit der Wissenschaften einschloß. 1940 emigrierte NEURATH nach England und gab in Oxford zusammen mit dem dem "Wiener Kreis" nahestehenden Physiker PHILIPP FRANK und dem englischen Philosophen CHARLES MORRIS die "Encyclopedia of Unified Science" heraus. Sein unerschöpflicher Ideenreichtun, seine ständige und nie erlahmende Aktivität und sein politisches Engagement waren gleichwohl von strengen Überzeugungen im Hinblick auf die Wissenschaft geleitet. Zusammen mit CARNAP sah er in der Metaphysik nicht allein ein System bedeutungs- und sinnloser Aussagen, sondern auch eine Hürde und ein Hindernis für jene Humanisierung und Sozialisierung, die ihm gerade durch eine "wissenschaftliche Weltauffassung" verbürgt schienen.
Daraus resultiert auch das vornehmlich von NEURATH und CARNAP herrührende Mißtrauen gegen den Einfluß WITTGENSTEINs bei vielen Mitgliedern des "Wiener Kreises". SCHLICK hatte seinen Aufsatz "Die Wende der Philosophie" WITTGENSTEIN als entscheidenden Vorfahren dieser Entwicklung genannt (neben FREGE und RUSSELL) und bemühte sich auch persönlich sehr um Kontakte mit WITTGENSTEIN. Wohl kam es zu einigen Begegnungen WITTGENSTEINs mit SCHLICK, CARNAP und WAISMANN, der von diesen Gesprächen auch Niederschriften anfertigte, aber WITTGENSTEINs distanzierte Stellung zum "logischen Positivismus" hat sich im großen und ganzen nie verändert.
Die empiristische und wissenschaftsgläubige Grundeinstellung des Kreises hat WITTGENSTEIN nicht geteilt, während vor allem CARNAP und NEURATH der verborgenen Metaphysik des "Tractatus" gegenüber immer ablehnender wurden. Denn so sehr auch der "logische Atomismus" der Satztheorie WITTGENSTEINs auf Gemeinsamkeiten hinwies und die Wahrheitstafeln und logisch -mathematischen Teile des Werkes WITTGENSTEINs den Bemühungen des "Wiener Kreises" konform erscheinen konnten, um so unverständlicher mußten die mystischen Partien des "Tractatus" auf die meisten Mitglieder des Kreises wirken.
Man muß dabei gar nicht so weit gehen wie WITTGENSTEINs Jugendfreund, der Architekt PAUL ENGELMANN, um dieses Unverständnis daraus zu erklären, daß die logischen Positivisten eben nichts zu verschweigen hätten, während WITTGENSTEINs Schweigen gerade auf das eigentlich Bedeutsame und Wichtige gerichtet war. Trotz verschiedener Gemeinsamkeiten in der Auffassung von der Aufgabe der Philosophie als einer Klärung von Sätzen oder dem Postulat der Grenzziehung in der Sprache, um unsinnige Aussagen von sinnvollen Sätzen zu unterscheiden, blieben die Unterschiede zu WITTGENSTEINs Denken erheblich. Das vom "Wiener Kreis" in aller Schärfe geforderte Verifikationskriterium für sinnvolle Aussagen wurde von WITTGENSTEIN differenzierter gesehen, und hinsichtlich der empirischen Bewahrheitung philosophischer Sätze blieb WITTGENSTEIN überhaupt skeptisch.
KARL POPPER, ebenfalls in einer Außenseiterstellung mit dem "Wiener Kreis" verbunden - man nannte ihn die "offizielle Opposition" -, hat die Enge dieses Sinnkriteriums und die daraus folgende Diffamierung der Metaphysik bündig beschrieben, wenn er sagt:
WITTGENSTEIN wollte alles andere denn eine wissenschaftliche Grundlegung der Philosophie oder der Erfahrungswissenschaften liefern oder in erkenntnistheoretische Probleme eingreifen. Daß sein "Tractatus" auf weiten Strecken den Vorstellungen des "logischen Positivismus" entsprach und darum auch von ihm vereinnahmt werden konnte, beruht einerseits auf einem Mißverständnis, andererseits aber auch auf der lapidaren und nicht leicht entschlüsselbaren Ausdrucksweise WITTGENSTEINs.
Während das Berührtsein durch metaphysische Fragen für die Vertreter des "Wiener Kreises" eher als Laster erschien, das allenthalben auf die Ebene der Poesie oder der Kunst abzudrängen war, war es für WITTGENSTEIN ein Leiden, dem man sich nicht entziehen konnte.
Daß sich unter den Mitgliedern des "Wiener Kreises" trotz ihrer einheitlichen, hauptsächlich durch den "Feind" Metaphysik bestimmten Grundorientierung immer wieder Meinungsverschiedenheiten ergaben, sollte man aber keineswegs negativ bewerten. Im Gegenteil: auch wenn man ihre "wissenschaftliche Weltauffassung" nicht teilt, gilt es doch jener offenen und sachlichen Weise der Diskussion, dem selbstkritischen Streben, das bessere Argument gelten zu lassen, und der Bereitschaft, aufgestellte Thesen oder Hypothesen immer wieder zu korrigieren oder zu verbessern, Bewunderung zu zollen.
Diese Bereitschaft ist in der Philosophie, in der, seit es sie gibt, alle Dinge kontrovers sind, selten; sie hängt beim "Wiener Kreis" freilich auch mit der Überzeugung zusammen, daß es kein absolutes Fundament, keine ein für allemal festsetzbare Erkenntnisbasis geben könne. NEURATH hat dies mit dem Bild ausgedrückt, wir wären auf der Suche nach einem zuverlässigen und exakt formulierten Wissen in der Lage von Seeleuten auf hoher See, die ihr Schiff für immer auf dem Ozean reparieren müßten, ohne es je in ein Trockendock bringen zu können.
Die spätere Entwicklung des nach der Ermordung SCHLICKs und den Verfolgungen durch den Nationalsozialismus - viele Mitglieder des Kreises waren auch jüdischer Abstammung - in alle Welt zerstreuten "Wiener Kreises" zeigt auch ein zunehmende Toleranz und Modifikation der ursprünglich radikal formulierten Thesen. In der analytischen Philosophie, die bereits früh mit dem "Wiener Kreis" Bekanntschaft schloß - englische Paradeanalytiker ALFRED AYER etwa oder der Norweger ARNE NAESS verbrachten einige Zeit in Wien und verbreiteten die Thesen des "Wiener Kreises" sehr bald in England und Skandinavien -, wurden wie in der logischen und mathematischen Grundlagenforschung, in der Wissenschaftstheorie und Methodologie und in der Sprachkritik viele Denkansätze des "Wiener Kreises" aufgenommen und weitergeführt.
In vielen Fällen wurde hier Pionierarbeit geleistet, und CARNAPs eigener Vergleich, der Philosoph arbeite wie ein Ingenieur, dessen Konstruktion beispielsweise eines Flugzeuges nie das endgültig beste Modell darstellen wird, wie ja auch in der Konstruktion der Wissenschaftssprache immer wieder Verbesserungen möglich sind, hat sich in der Folge bewahrheitet.
Freilich resultiert diese Teilarbeit aus einer Auffassung von Philosophie, der man auch dort, wo die ursprüngliche Metaphysikfeindlichkeit gemildert wird, einen reduktionistischen Standpunkt nicht absprechen kann. Dort wo die Philosophie auf Fragen reduziert wird, die - was immer dies jetzt des Näheren heißen mag - nur in wissenschaftlicher Weise beantwortet werden können, löst sie sich entweder als Philosophie auf oder wird bestenfalls zu einer "ancilla scientiae" (Magd der Wissenschaft). Sie beschneidet aber damit ihre eigenen Wurzeln, um gewissermaßen selbst zu einer Wissenschaft zusammenzuschrumpfen. Dies bedeutet nicht, daß die historische Gestalt der Philosophie als Metaphysik um jeden Preis gerettet und aufrechterhalten werden müßte - wohl aber, daß die wissenschaftliche Zugangsweise zur Welt oder zur Wirklichkeit wider die einzig mögliche noch die für alles andere maßgebliche Weise darstellt, Wirklichkeit zu erfahren.
Denn selbst wenn alle nur möglichen Rätsel und Probleme gelöst wären, könnte es, wie WITTGENSTEIN behauptet hatte, sich zeigen, wie wenig damit getan ist, weil unsere Lebensfragen davon gar nicht berührt sind. Mag sein, daß der von NEURATH stammende Schlußsatz der Programmschrift "Wissenschaftliche Weltauffassung - Der Wiener Kreis" dennoch wahr geworden ist - allerdings auf eine ganz andere Weise, als sie ihr Verfasser beabsichtigte: