Arno Ros:

"Was ist Philosophie? "

(Vortrag Leipzig, 12. Dezember 1997)



 
 
 
 

Arno Ros
Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg
Institut für Philosophie
Postfach 4120
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Tel. (+49 391) 67.16567
Fax: (+49 391) 67.16566
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Übersicht
Über die heute zumeist vertretene Auffassung vom Verhältnis zwischen philosophischen und empirischen Untersuchungen  Warum die heute zumeist vertretene Auffassung falsch ist  Was dies mit der Philosophie zu tun hat  Unterschiedliche Formen des Entstehens von Unterscheidungsfähigkeiten 
Zwischenresüme  Zusatzbemerkung  Aufgaben philosophischer (begriffsreflektierender) Überlegungen  Die bewußt machende Aufgabe 
Die erklärende Aufgabe  Die kritische Aufgabe  Möglichkeiten zur Überprüfung der Sinnhaftigkeit von Begriffen  Keine direkte Überprüfung an der Erfahrung 
Gleichwohl spielt die Erfahrung eine gewisse Rolle  Resüme  Fußnoten 

Meine Damen und Herren!

 Ich freue mich darüber, bei Ihnen vortragen zu dürfen. Umso mehr bedaure ich, daß ich Ihnen eine schlechte Nachricht bringe. Ich muß Ihnen nämlich leider sagen, daß das Fach, welches vermutlich die meisten von Ihnen studieren oder gar beruflich vertreten: die Philosophie also, sich in einer tiefen Krise befindet.

 Bevor ich weiterrede, sollte ich diese Ausgangsbemerkung allerdings in einigen Punkten präzisieren.

Als erstes gilt: Mit der Rede von der "Krise der Philosophie" habe ich nicht so sehr die gegenwärtige Verfassung der Institution der Philosophie an deutschen oder außerdeutschen Universitäten im Auge. Darüber wäre zwar auch zu reden, doch das möchte ich heute nicht tun. Worauf ich mich beziehen möchte, das ist vielmehr ein gegenwärtig bei Philosophen vom Fach wie aber auch bei nicht-Philosophen weit verbreitetes Verständnis dessen, was es heißt oder heißen sollte, philosophischen Überlegungen nachzugehen.

 Zum zweiten möchte ich meine Bemerkung vom krisenhaften Zustand der gegenwärtigen Philosophie nur auf jenen Teil der Philosophie beziehen, von dem traditionellerweise angenommen worden ist, daß er eine gewisse Bedeutung für die formalen und speziell die empirischen Wissenschaften habe. Der Ausdruck "Philosophie" wird heute bekanntlich in sehr vielen Kontexten verwendet. So kann er zum Beispiel auch für die Gesamtheit gewisser, besonders allgemeiner Leitlinien stehen, an denen eine einzelne Person oder eine Gruppe von Personen sich in ihren Handlungen zu orientieren versucht - was sich dann in Wendungen niederschlägt, in denen von der "Philosophie" einer bestimmten Person oder gar von der "Philosophie" eines ganzen Unternehmens die Rede ist. Dieses Verständnis philosophischer Überlegungen werde ich im Folgenden vernachlässigen.

Und als drittes und letztes schließlich will ich gleich zu Beginn zugestehen, daß man heute natürlich auch dann, wenn man sich allein auf das für die Praxis der formalen und empirischen Wissenschaften bedeutsame Verständnis philosophischer Bemühungen beschränkt, mit den unterschiedlichsten, keineswegs auf einen einzigen Nenner zu bringenden Auffassungen konfrontiert werden kann. Worauf ich mich im Folgenden beziehen werde, das ist eine Position, die durchaus nicht von allen an der Philosophie Interessierten vertreten wird. Wohl aber ist es eine Position, die sich ungefähr seit dem Beginn der 60er Jahres unseres Jahrhunderts innerhalb der gegenwärtig einflußreichsten philosophischen Richtung: der Analytischen Philosophie, zunehmend durchgesetzt hat.

Woraus besteht diese Position? Auf eine kurze Formel gebracht, besagt sie: Zumindest der Teil der Philosophie, von dem man traditionellerweise geglaubt hat, daß er eine gewisse Bedeutung für die empirischen Wissenschaften habe, müsse als etwas verstanden werden, was sich nicht wesentlich von dem unterscheidet, was man innerhalb der empirischen Wissenschaften tut. Streng genommen sei es daher so, daß dieser Teil der Philosophie allmählich, und zwar aus guten Gründen, in den empirischen Wissenschaften aufgehe.

 Die Auffassung, mit der man es hier zu tun hat, ist unter anderem als eine Reaktion auf Überzeugungen zu verstehen, wie sie innerhalb einer früheren Phase der Analytischen Philosophie - im Logischen Empirismus sowie innerhalb der Philosophie der Alltagssprache - entwickelt worden waren. Dort war man nämlich der Meinung gewesen, daß es zwischen philosophischen und empirischen Untersuchungen eine überaus scharfe, unüberbrückbare Trennlinie gebe. Und das, so glaubte man am Ende jener Phase zu erkennen, trifft in Wirklichkeit nicht zu.

Was mich persönlich angeht, so meine ich zwar auch, daß die unvermittelte Konfrontation zwischen philosophischen und empirischen Untersuchungen, wie sie für die Analytische Philosophie der vierziger und fünfziger Jahre charakteristisch gewesen ist, der Korrektur bedurfte. Nur hat man bei dieser Korrektur meiner Überzeugung nach in den nachfolgenden Jahren einen falschen Weg eingeschlagen. Bei genauerem Zuschauen wird deutlich, daß recht verstandene philosophische Argumentationen aus einem kompliziertem Mixtum von verschiedenen Diskurstypen bestehen, zu denen die erfahrungsbezogenen Diskurse zwar auch, aber nur als Teil eines umfassenderen Ganzen, gehören. Es war daher falsch, sich darum zu bemühen, Unterschiede zwischen erfahrungsbezogenen und philosophischen Argumentationen zu verwischen. In Wirklichkeit kommt es vielmehr darauf an, die verschiedenen Diskurstypen, die in philosophische Überlegungen eingehen, zunächst einmal so scharf wie möglich zu benennen, um dann, in einem zweiten Schritt, zu zeigen, in welcher Weise diese verschiedenen Diskurstypen in philosophischen Überlegungen miteinander verschränkt werden können.

 Damit habe ich zugleich bereits umrissen, was ich Ihnen im Folgenden vortragen möchte: Ich möchte Ihnen zu zeigen versuchen, warum wir das speziell in der gegenwärtigen Analytischen Philosophie dominierende Verständnis von der Beziehung zwischen der Philosophie und den empirischen Wissenschaften aufgeben sollten. Und ich möchte Ihnen zumindest in Ansätzen zeigen, was wir an dessen Stelle setzen sollten.
 
 

Über die heute zumeist vertretene Auffassung vom Verhältnis zwischen philosophischen und empirischen Untersuchungen

Lassen Sie mich zu Beginn noch ein wenig genauer erläutern, woraus die Auffassung besteht, gegen die ich mich wenden möchte. Charakteristisch für diese Auffassung ist in etwa dies:

Philosophische Thesen sind, so meint man, Ausdruck eines zwar häufig nicht unwichtigen, gleichwohl aber doch nur vorläufigen, undifferenzierten Stadiums unserer Versuche, Erkenntnisse über die Welt, in der wir leben - einschließlich unserer selbst als Teilen der Welt - zu gewinnen. Typisch für philosophische Thesen sei daher, daß sie häufig sehr allgemein gehalten sind, daß man sich in ihnen beispielsweise über Grundbestandteile des Universums äußere, daß man generelle Merkmale der Sprache aufzuzählen versuche, daß man die allgemeinen Eigenheiten der Beziehung zwischen materiellen und psychischen Phänomenen zu kennen vorgebe, und anderes mehr in dieser Art. Seit der Etablierung der empirischen Wissenschaften hat sich aber, so meint man ferner, ein Korrektiv zu solchen, zumindest der Tendenz nach immer spekulativen Überlegungen einrichten lassen. Denn den empirischen Wissenschaften sei es in immer größerem Ausmaß gelungen, solche sehr allgemein gehaltenen Thesen zu spezifizieren. Und mit diesem Spezifizierungsprozeß sei verbunden gewesen, daß man lernte, die infolge ihrer Pauschalität schwer zu überprüfenden Behauptungen der Philosophie so umzuformulieren, daß sie empirischen Tests zugänglich wurden. Im Endeffekt gehe die Philosophie daher in den empirischen Wissenschaften auf. Ich nehme an, diese Auffassung ist Ihnen so vertraut - sofern Sie ihr nicht sogar selbst anhängen -, daß ich nicht viel mehr zu ihr sagen muß. Zur Illustration nur kurz ein ganz in diesem Sinne gemeintes Zitat aus einer Monographie von Patricia S. Churchland, die den bemerkenswerten Titel Neurophilosophy - "Neurophilosophie" also - trägt:

"(...) seit einiger Zeit ist deutlich geworden, daß die Philosophie bestenfalls als etwas zu verstehen ist, was in einem Kontinuumsverhältnis zu den empirischen Wissenschaften steht; und es ist auch deutlich geworden, daß Probleme und Lösungen zwar mehr oder weniger synoptisch sein mögen, daß dies dann aber allein einen Unterschied des Grads, und nicht etwa einen Unterschied der Art nach mit sich bringt. Obwohl Theorien mehr oder weniger weit entfernt von Beobachtungen sein können, sind sie nur insoweit interessant, als sie letztlich auf Beobachtungen aufsitzen. Der Weg zu Beobachtungen mag manchmal, wie etwa in der theoretischen Physik, ein langer Weg durch viele Theorien sein, aber letztlich muß es ein Weg dahin sein."(*1)
Churchland hat sich an dieser Stelle ihrer Ausführungen auf den nordamerikanischen Philosophen Willard Van Orman Quine bezogen. Und das ist kein Zufall. Denn in der Tat hat Quine mit seinem 1951 erstmals veröffentlichten Aufsatz "Two dogmas of empiricism" und mit seiner 1960 erschienenen Monographie Word and Object für die Durchsetzung dieses Verständnisses der Beziehung zwischen philosophischen und empirischen Überlegungen eine entscheidende Rolle gespielt.

In einer der Schriften Quines findet sich denn auch eine Passage, die für den Zusammenhang, den ich hier verfolgen möchte, besonders aufschlußreich ist. Quine schreibt dort:

"Eine Trias - Begriffsnetz, Sprache und Welt - ist nicht das, was mir vorschwebt, sondern ich denke (...) in den Begriffen (in terms of) Sprache und Welt." (*2)
Warum ist diese Passage so aufschlußreich? - Nun, sie ist es deswegen, weil aus ihr deutlich wird, daß Quine, und mit ihm alle, die ihm folgen, von einem ganz bestimmten erkenntnistheoretischen Modell ausgehen:

Für Quine gilt, daß der Gewinn von Erkenntnissen im wesentlichen eine Angelegenheit des Zusammenspiels zweier, und nur zweier einander gegenüberstehender Komponenten ist: den Sätzen beziehungsweise Aussagen, mit denen wir versuchen, etwas über die Welt zur Sprache zu bringen, auf der einen Seite; und der Welt, wie sie tatsächlich ist, auf der anderen. Bitte behalten Sie diese grundsätzliche Bipolarität des in der gegenwärtigen Auffassung bevorzugten erkenntnistheoretischen Modells für das, was ich im Folgenden vortragen möchte, im Auge.
 
 

Warum die heute zumeist vertretene Auffassung falsch ist

 Soweit zum Kern der heute innerhalb der Analytischen Philosophie - bei Autoren wie Quine, wie Patricia Churchland, aber auch auch bei John R. Searle, in Deutschland zum Beispiel bei Peter Bieri, Ansgar Beckermann und, wenn auch mit gewissen Einschränkungen, sogar bei Ernst Tugendhat - zu findenden Auffassung vom Verhältnis zwischen philosophischen und erfahrungsbezogenen, speziell empirisch-wissenschaftlichen Überlegungen. Doch warum nun soll diese Auffassung falsch sein?

 Es gibt einen Punkt in der Auffassung Quines, dem ich zustimmen würde: Quine legt erheblichen Wert darauf, daß alle empirisch-wissenschaftliche Forschung eine Frage der Interaktion zwischen Menschen ist, die darum bemüht sind, ihre Meinungen über Teile der Welt untereinander abzustimmen. Doch lassen Sie uns einmal einen Blick darauf werfen, wie das tatsächlich funktioniert: das Abstimmen unterschiedlicher Meinungen über die Welt. Und lassen Sie mich Ihnen zu diesem Zweck eine kleine Geschichte erzählen.

Stellen Sie sich bitte vor, Sie befinden sich mit einem Ihrer Freunde auf einer Radtour durch die Altmark, und Sie berichteten Ihrem Freund, sie kennten eine nah gelegene Wiese, auf der es ein reiches Vorkommen von Wiesenchampignons gebe. Und stellen Sie sich des weiteren vor, Ihr Freund äußere, daß er diese Wiese ebenfalls kenne, behaupte aber, daß dort keine Wiesenchampignons vorkämen. Was könnten Sie tun, um diese Meinungsverschiedenheit zu beheben? - Nun, die Antwort auf diese Frage ist natürlich, zumindest zunächst einmal: am besten wäre es, Sie fahren gemeinsam zu besagter Wiese, und nehmen sie gemeinsam genauer in Augenschein.

 Stellen Sie sich nun aber bitte zusätzlich vor, sie stoßen auf jener Wiese tatsächlich auf eine Reihe von weißen Pilzen mit zum Rand nach unten hin leicht gekrümmten Hüten. Sie, in der Gewißheit, Ihren Freund überzeugt zu haben, verweisen auf diese Gebilde. Aber Ihr Freund gibt sich keineswegs überzeugt. Ganz im Gegenteil: mit nicht zu überhörendem leicht alarmiertem Unterton in der Stimme äußert er, daß er jene Pilze zwar natürlich auch sehe, daß es sich hier aber nicht um Wiesenchampignons, sondern um weiße Knollenblätterpilze handle - eine Auffassung hingegen, die Sie sogleich zurückweisen.

Was könnten Sie jetzt tun, um zu einer Einigung zu kommen? - Weiteres, genaueres Beobachten, weitere Versuche, sich gemeinsam Erfahrungen zu verschaffen, sind offenbar, so jedenfalls ist dieses Beispiel gemeint, unzureichend, um Ihren Konflikt zu beheben. Was also würden Sie aller Voraussicht nach tun? Nun, auch hier ist die Antwort einfach. Wenn der wechselseitige Hinweis auf das, was man angeblich sieht, nicht hilft, werden Sie sich gemeinsam mit ihrem Freund ein anerkanntes Lehrbuch der Pilzbestimmung holen, sich die dort zu findenden Charakterisierungen dessen, was ein Wiesenchampignon und was ein Knollenblätterpilz ist, vergegenwärtigen, und im Lichte der so gewonnenen Kenntnisse erneut versuchen, zu einer - diesmal hoffentlich übereinstimmenden - Einordnung der Pilze auf jener Wiese in der Altmark zu gelangen. Mit etwas anderen Worten formuliert: Sie werden sich in einer Situation wie der, die ich soeben geschildert habe, zunächst einmal des Maßstabs dafür, was ein Wiesenchampignon und was ein Knollenblätterpilz ist, gemeinsam vergewissern, um dann nochmals zur Einordnung jener Pilze zu schreiten.

Warum diese kleine Geschichte? - Weil sich an ihr, wie ich meine, etwas Wichtiges darüber lernen läßt, aus welchen Ursachen heraus es zwischen Menschen zu Meinungsverschiedenheiten kommen kann, und was man, dementsprechend, tun muß, um solche Meinungsverschiedenheiten beheben zu können.

Einige Meinungsverschiedenheiten entstehen dadurch, daß die an einem Gespräch Beteiligten über unterschiedliche Erfahrungen mit dem Gegenstand verfügen, über den gerade gesprochen wird: der eine kennt eine bestimmte Wiese in der Altmark aus eigener Erfahrung, der andere nicht. Aber das sind nicht die einzigen möglichen Ursachen für Meinungsverschiedenheiten. Denn offenbar ist es so, daß wir unsere Erfahrungen nicht ganz voraussetzungsfrei gewinnen.

 Erfahrungen machen heißt, Gegenstände in einer bestimmten Weise einordnen - es heißt beispielsweise, zu der Meinung gelangen, daß jener Pilz ein Wiesenchampignon, dieser Mensch ein verläßlicher Freund, jenes unter dem Okular des Mikroskops erkennbare Gebilde eine pflanzliche Zelle ist, usw. Um aber solche Einordnungen vornehmen zu können, bedienen wir uns gewisser Maßstäbe - der Maßstäbe dafür, was ein Wiesenchampignon, was ein verläßlicher Freund, was eine pflanzliche Zelle ist, usw.

 Mit etwas anderen Worten formuliert: solche Einordnungen können wir nur deswegen vornehmen, weil wir über bestimmte Fähigkeiten des Unterscheidens von Gegenständen, über, wie es in der Philosophie zumeist heißt, bestimmte Begriffe verfügen. Und die so verstandenen Maßstäbe, die Unterscheidungsfähigkeiten, die Begriffe nun(*3) scheinen nicht immer bei allen Menschen die gleichen zu sein. Wobei es, wenn dies der Fall ist, offenbar ebenfalls sehr schnell zu Meinungsverschiedenheiten kommen kann.

Wir müssen also, das wollte ich mit jener kleinen Geschichte veranschaulichen, zwischen zwei Arten von Konflikten unterscheiden: zwischen

Und dementsprechend müssen wir auch zwischen zwei Arten der Auflösung von Konflikten unterscheiden: zwischen

Was dies mit der Philosophie zu tun hat

 Doch was hat dies alles mit dem Verhältnis zwischen philosophischen und erfahrungsbezogenen Überlegungen zu tun? - Beachten Sie bitte zunächst einmal, daß wir uns mit den Überlegungen, die wir zuletzt angestellt haben, im Rahmen eines erkenntnistheoretischen Modells bewegt haben, welches nicht mehr dasselbe ist wie das, was wir vorhin beim Blick auf die Ausführungen Quines kennen gelernt haben.

Quine, so hatten wir gesagt, geht von einem bipolaren Erkenntnismodell aus: Hier die Ebene der Sätze beziehungsweise Aussagen, mit denen wir versuchen, etwas über die Welt zur Sprache zu bringen; und dort die Ebene der tatsächlichen Welt, auf die wir uns mit jenen Aussagen zu beziehen versuchen.

Das Beispiel hingegen, das wir uns vergegenwärtigt haben, weist in Richtung auf ein nicht mehr zweipoliges sondern dreipoliges Modell des Gewinns von Erkenntnissen. Wahre - oder auch falsche - Aussagen über die Welt, so legt dieses Beispiel nahe, gewinnen erkenntnisfähige Individuen nicht, indem sie gleichsam in eine direkte Konfrontationsbeziehung zu der Welt, wie sie vermeintlich an sich ist, eintreten und dann versuchen, ein "Bild" von dem einen oder anderen Ausschnitt dieser Welt zu entwickeln. Das Erzeugen von Aussagen über die Welt sollte vielmehr als ein auf den wechselseitigen Austausch zwischen Individuen angelegtes Handeln verstanden werden, im Zuge dessen sprachfähige Individuen unter Nutzung der ihnen jeweils verfügbaren Unterscheidungsfähigkeiten bestimmte Gegenstände ihrer Welt gleichsam herausgreifen, um zu prüfen, ob sie in den Anwendungsbereich einer jener Unterscheidungsfähigkeiten (eines bestimmten "Begriffs") fallen oder nicht.(*4)
 
 

Unterschiedliche Formen des Entstehens von Unterscheidungsfähigkeiten

 Lassen Sie mich versuchen, den Punkt, auf den es mir hier ankommt, noch von einem anderen Blickwinkel her zu verdeutlichen.

Die eigentliche Ursache der Meinungsverschiedenheit zwischen den beiden Personen unseres kleinen Pilz-Beispiels erschöpft sich, so hatten wir gesagt, nicht darin, daß beide angesichts der bewußten Wiese in der Altmark unterschiedliche Erfahrungen machen. Das stimmt zwar auch. Aber dafür, daß sie unterschiedliche Erfahrungen machen, gibt es einen ganz bestimmten zusätzlichen Grund, der nicht mit der Situation auf jener Wiese allein zusammenhängt. Und dieser Grund liegt darin, daß beide von vornherein mit etwas unterschiedlichen Fähigkeiten, neutraler ausgedrückt: mit etwas unterschiedlichen Gewohnheiten des Unterscheidens von gewissen Pilzarten an jene Wiese herangetreten sind. Wobei sich als Folge dieses Sachverhalts ergeben hatte, daß Bemühungen zur Behebung des Konflikts zwischen ihnen erst unter einer ganz bestimmten Voraussetzung Aussicht auf Erfolg versprachen: Beide mußten davon ablassen, auf dem zu insistieren, was sie - im Rahmen ihrer jeweiligen Unterscheidungsgewohnheiten - auf der Wiese sahen; statt dessen mußten beide sich bemühen, ihre Unterscheidungsgewohnheiten selbst aufeinander abzustimmen. Mit etwas anderen Worten gesagt: beide mußten bereit sein, einen Teil der für sie bisher selbstverständlichen Praxis des Einordnens von Gegenständen zu überdenken.

Nun gibt es - in einem allerdings sehr weiten Sinne dieses Worts verstandene - Unterscheidungsfähigkeiten natürlich nicht nur bei Menschen, sondern auch bei Tieren. Und auch bei Tieren können Unterscheidungsfähigkeiten sich verändern. Irgendwann haben sich im Laufe der Geschichte unseres Planeten Lebewesen mit zunächst noch rudimentären Nervensystemen entwickelt, welche beispielsweise imstande waren, auf das Vorkommen und nicht-Vorkommen gefahrbringender Situationen in ihrer Umgebung unterschiedlich zu reagieren, Lebewesen also, welche in diesem Sinne über eine elementare Unterscheidungsfähigkeit verfügten. Und solche und andere Unterscheidungsfähigkeiten mehr waren der Anfang einer Entwicklung, die schließlich dazu geführt hat, daß Geschichten wie die auf unserer Wiese in der Altmark möglich geworden sind.

Bei der Art und Weise, wie sich Unterscheidungsfähigkeiten verändern können, empfiehlt es sich, zunächst einmal zwischen dreierlei zu unterscheiden: Veränderungen von Unterscheidungsfähigkeiten können, wie Sie wissen, bewirkt werden durch biologische Prozesse genetischer Kombination, Mutation, Selektion, usw.; sie können eine Folge individualgeschichtlich bedingter Geschehen - eine Folge von Prozessen des Reifens, der Prägung, des Lernens, usw. - sein; und sie können im Zuge kultureller Geschehen - im wesentlichen durch sprachvermitteltes soziales Lernen - entstehen.

Eigentümlicherweise ist es nun allerdings so, daß die Art, in der unsere beiden Beispielpersonen sich anschicken, ihre Unterscheidungsfähigkeiten zu verändern, durch diese Aufzählung noch nicht so recht erfaßt ist. Charakteristisch für die soeben aufgezählten Prozesse genetisch, individualgeschichtlich und sogar auch noch kulturell bedingter Veränderungen ist nämlich, daß es sich um Veränderungen handelt, welche gleichsam "hinter dem Rücken" der von ihnen betroffenen Individuen, das heißt ohne deren Wissen und Wollen, ablaufen. Und das ist bei unseren beiden Beispielpersonen anders. Bei diesen beiden handelt es sich - so wollen wir jedenfalls unterstellen - um Individuen, die sich sehr wohl bewußt sind, daß sie bei ihrem Blick in ein anerkanntes Buch der Pilzbestimmung einen Versuch zur Veränderung eines (wenn auch sehr kleinen) Teils ihrer Unterscheidungsfähigkeiten unternehmen.

Das heißt also, wir haben unserer Aufzählung der Faktoren, die zur Veränderung von Unterscheidungsfähigkeiten führen können, noch einen weiteren, vierten Faktor hinzuzufügen: Offensichtlich ist es irgendwann einmal im Laufe der Entwicklung menschlicher Kulturen dazu gekommen, daß wir Menschen uns die Fähigkeit angeeignet haben, unsere Fähigkeiten des Unterscheidens von Gegenständen selber noch zum Gegenstand von Überlegungen, und damit auch, unter Umständen, zum Gegenstand gewollter Veränderungen zu machen.

Wann ist dies geschehen? Und worin liegen die spezielleren Eigenheiten solcher, Unterscheidungsfähigkeiten nicht mehr allein verwendender, sondern reflektierender Überlegungen? - Ganz einfach (und Sie werden die Antwort auf diese Fragen bereits erraten haben): Daß Menschen diese gleichsam auf einer zweiten Ebenen liegenden kognitiven Fähigkeiten erworben haben, steht in einem engen Zusammenhang mit dem Entstehen der Philosophie.(*5) Und die Überlegungen, in denen Unterscheidungsfähigkeiten nicht allein verwendet werden, sondern in denen über sie reflektiert wird, das sind, natürlich, die Überlegungen, die man mit gutem Grund als genuin "philosophische" Überlegungen bezeichnen darf:
 



Zwischenresüme

 Ich nehme an, es ist mittlerweile bereits deutlich geworden, worin meiner Überzeugung nach der Fehler liegt, der für das heute weitgehend üblich gewordenen Verständnis der Beziehung zwischen philosophischen und erfahrungsbezogenen, speziell empirisch-wissenschaftlichen Überlegungen charakteristisch ist, und der zugleich auch für die Krise der Philosophie verantwortlich ist, von der ich eingangs gesprochen habe.

Dieser Fehler hängt, um es nochmals zu betonen, eng mit dem, wie wir es genannt haben, "zweipoligen" Modell des Gewinns von Erkenntnissen zusammen.

Zwar ist richtig: Wenn es wirklich so wäre, daß die wichtigsten Komponenten, die beim Gewinn von Erkenntnissen über die Welt eine Rolle spielen, tatsächlich allein die von uns gebildeten Aussagenü über die Welt auf der einen Seite und die Welt, wie sie tatsächlich ist, auf der anderen Seite, sind - dann wären alle für den Gewinn von Wissen über die Welt relevanten Überlegungen in der Tat letztlich immer nur Überlegungen von einem einzigen, eben dem weltbezüglichen Typ.

In Wirklichkeit aber ist dieses erkenntnistheoretische Modell, wie sich nicht nur anhand von Beispielen wie dem unserer beiden Pilzbetrachter, sondern anhand einer ganzen Vielzahl von weiteren Einwänden zeigen läßt, irreführend.

Um nur noch einen der gegen das Quine-Modell sprechenden weiteren Punkte zu erwähnen: Nehmen wir die Art, wie sich die empirischen Wissenschaften seit der europäischen Antike entwickelt haben. Wäre das allein bipolare erkenntnistheoretische Modell richtig, so müßte das Fortschreiten dieser Wissenschaften allein dem Umstand zu verdanken sein, daß wir immer umfangreichere, immere detailliertere, immer kontrollierbarere Erfahrungen über die Welt zu machen gelernt haben. Und so will es zwar auch die heute zumeist vertretene Meinung. Tatsächlich aber haben zahlreiche wissenschaftsgeschichtliche Studien - neben anderen die Studien von zum Beispiel Stephen Toulmin und Thomas S. Kuhn(*6) - bereits seit langem eindrucksvoll gezeigt, daß dies nur die halbe Wahrheit ist.

Was bei der gegenwärtigen Standardauffassung von der Entwicklung der empirischen Wissenschaften übersehen wird, ist, daß wissenschaftlicher Fortschritt auch heißt: die Maßstäbe für die Einordnung von Gegenständen, die wir bei empirischen Forschungen verwenden, einem kontinuierlichen Prozeß der Erweiterung, Differenzierung, Umorganisation, usw., zu unterwerfen. Auch wenn diese Auffassung heute weit verbreitet ist: Es ist naiv, zu glauben, daß den empirischen Wissenschaften eine gleichsam "an sich" existierende Wirklichkeit gegenüber stehe, und daß der Prozeß der wissenschaftlichen Erforschung der Welt sich darin erschöpfe, immer mehr Kenntnisse über diese Wirklichkeit anzusammeln.

Tatsächlich besteht ein erheblicher Teil wissenschaftlicher, empirisch relevanter Forschung auch daraus, daß man sich gar nicht direkt über Teile der Welt, sondern über die Art und Weise des von uns jeweils praktizierten Zugangs zur Welt Klarheit zu verschaffen versucht. Der Fortgang wissenschaftlicher Erkenntnisse wird häufig nicht so sehr dadurch behindert, daß man irrigen Auffassungen über Teile der Welt anhängt: dergleichen kann korrigiert werden, sobald man imstande ist, bessere Bedingungen intersubjektiven Beoachtens bereitzustellen. Mindestens ebenso gravierend kann sich eine schwammige, will sagen: unzureichend differenzierte beziehungsweise unzureichend verstandene Praxis des Unterscheidens von Gegenständen der Forschung auswirken. Und derartige Hemmnisse zu beheben, das ist, um es nochmals zu sagen, das eigentlich philosophische Geschäft.

 Nicht vergessen sollte man freilich an dieser Stelle, daß ein großer Teil solcher maßstabs-, solcher begriffsreflektierender Überlegungen selbstverständlich nicht von Leuten vollzogen wird, die von ihrem Beruf her Philosophen sind, sondern von Leuten, die von ihrem Beruf her beispielsweise Physiker, Biologen, Historiker, oder was auch immer, sind. Denn natürlich müssen wir bei der Frage nach dem Verhältnis zwischen philosophischen und erfahrungsbezogenen Diskursen zwischen zweierlei unterscheiden: zwischen der logische Frage nach der Beziehung zwischen den Begriffen dieser Diskurstypen: und der institutionssoziologischen Frage, innerhalb welcher akademischer oder sonstiger Institutionen es zur Realisierung solcher Diskurse kommt.

 Und so sind es denn in diesem Sinne verstandene philosophische Erwägungen gewesen, die beispielsweise Newton dazu veranlaßt haben, den von ihm vorgefundenen, noch von Aristoteles stammenden Begriff der natürlichen Bewegung durch einen anderen Begriff zu ersetzen; die Einstein dazu brachten, unseren Begriff der Gleichzeitigkeit zweier Ereignisse zu modifizieren; die es Biologen wie Erich von Holst, Konrad Lorenz, Nikolaas Tinbergen und anderen ermöglicht haben, tierische Lebensäußerungen von ihrem Begriff her nicht allein als Abfolge von Reizen und Reaktionen zu deuten, sondern auch als komplex strukturierte, erblich koordinierte Ganzheiten, usw.

 Tatsächlich können wir die enorme Dynamik kultureller Veränderungen, welche europäische beziehungsweise europäisch beeinflußte Gesellschaften innerhalb der letzten rund zweieinhalbtausend Jahre erfahren haben, nicht verstehen, wenn wir nicht zumindest auch berücksichtigen, daß es den Menschen seit der griechischen Antike möglich geworden ist, ihre Fähigkeiten zur Unterscheidung von Gegenständen nicht mehr bloß zu gebrauchen, sondern gegebenenfalls auch zu modifizieren.
 
 

Zusatzbemerkung

 Bevor ich fortfahre, lassen Sie mich noch eine kurze Zwischenbemerkung machen. Wir hatten gesagt, daß man zwischen begriffsverwendenden und begriffsreflektierenden Diskursen unterscheiden sollte, und daß empirische Überlegungen zur Klasse der begriffsverwendenden Diskurse gehören, während die begriffsreflektierenden Überlegungen nichts anderes sind als das, was man gemeinhin unter "philosophieren" versteht beziehungsweise verstehen sollte.

Dieses Bild sollten wir jetzt noch ein wenig ergänzen. Zu den begriffsverwendenden Diskursen gehören nämlich selbstverständlich nicht nur die empirischen Überlegungen. Zu ihnen gehören beispielsweise auch alle jene Überlegungen, innerhalb derer es um die Richtigkeit bestimmter Normen geht, oder innerhalb derer über die Berechtigung einer bestimmten mathematischen Behauptung gestritten wird. Und was die begriffsreflektierenden, die philosophischen Diskurse angeht, so empfiehlt es sich, zumindest zwei Unterfälle zu unterscheiden. Der eine betrifft alle jene Überlegungen, in denen ganz allgemein darüber gesprochen wird, was man eigentlich unter einem Begriff, allgemeiner gesprochen: einem Bezugspunkt für die Klassifizierung von Gegenständen zu verstehen hat, in welcher Weise man Behauptungen über solche Bezugspunkte formulieren und gegenüber eventuellen Zweifeln verteidigen sollte, usw. Und der andere betrifft alle jene Überlegungen, in denen man sich ein Bild von spezielleren Begriffen - Begriffen beispielsweise, wie sie innerhalb der Biologie, der Psychologie, der Geschichtswissenschaften, usw., verwendet werden - zu machen versucht.

Diese letztere Unterscheidung - die Unterscheidung zwischen Erörterungen zur Theorie des Begriffs im allgemeinen, und Erörterungen einzelner Begriffe also - empfiehlt sich nicht von ungefähr. Tatsächlich haben sich im Laufe der Geschichte philosophischer Reflexionen nämlich nicht nur unsere Auffassungen davon verändert, was Kraft ist, was Leben ist, was Psyche ist, usw. - alles Auffassungen also, welche Begriffe betreffen, die, zum Beispiel, für die Festlegung des Untersuchungsbereichs bestimmter empirischer Wissenschaften von zentralen Bedeutung sind. Es haben sich auch unsere Auffassungen davon verändert, was ganz allgemein unter Bezugspunkten für die Einordnung von Gegenständen zu verstehen ist. In der gesamten Philosophie der Antike zum Beispiel war man davon überzeugt, daß diese Bezugspunkte - platonisch gesprochen: die "Ideen" - etwas seien, was Menschen irgendwie in der ihnen äußerlich vorgegebenen Natur vorfinden. Da unter einem Begriff grundsätzlich etwas von Menschen Gemachtes verstanden wird, sucht man daher, genau genommen, so etwas wie eine "Begriffstheorie" in den Schriften Platons, Aristoteles', aber auch noch in denen der Epikuräer oder Stoiker, vergebens. Dergleichen ist erst mit dem Entstehen der neuzeitlichen Philosophie möglich geworden, d. h. von dem Zeitpunkt man an, in dem man bestimmter Gründe wegen zu der Überzeugung gelangt war, daß wir unsere Bezugspunkte für die Einordnung von Gegenständen nicht in der äußeren Welt vorfinden, sondern daß es sich bei diesen Gegenständen um etwas handelt, was die menschliche Vernunft unter Vollzug bestimmter mentaler Operationen ungebunden durch die Außenwelt, "autonom", hervorbringt. Und heute schließlich legen gute, speziell vom späten Wittgenstein bereitgestellte Gründe es nahe, unter jenen Bezugspunkten etwas zu verstehen, was eng mit der Sprache verwoben ist, die wir sprechen.(*7)
 
 

Aufgaben philosophischer (begriffsreflektierender) Überlegungen

Doch was heißt es nun eigentlich genauer, wenn man behauptet, daß philosophische Überlegungen als begriffsreflektierende Überlegungen - im Unterschied zu den begriffsverwendenden Überlegungen - verstanden werden sollten? - Zunächst einmal sollte man in diesem Zusammenhang zwischen drei besonderen, in der Praxis freilich eng miteinander zusammenhängenden Aufgaben so verstandener philosophischer Bemühungen unterscheiden: begriffsreflektierende (= philosophischer) Diskurse sollen dazu verhelfen

Lassen Sie mich ein wenig erläutern, was ich damit meine.
 
 

Die bewußt machende Aufgabe

 Die weitaus meisten der Begriffe, die wir bei der Einordnung von Gegenständen verwenden, sind natürlich Begriffe, die irgendwann innerhalb der Entwicklung unserer Gesellschaft entstanden und von nachfolgenden Generationen übernommen worden sind. Irgendwann haben sich bei unseren Vorfahren Gewohnheiten des Unterscheidens von Gegenständen herausgebildet, die bei ihnen den Eindruck hervorriefen, daß sie für ihren gesellschaftlichen Verkehr untereinander, für ihren Umgang mit der äußeren Welt, und für ihre je-eigene Selbstdarstellung als Individuen besonders nutzbringend seien. Und diese Fähigkeiten wurden dann, wenn es glückte, an die nachfolgenden Generationen weitergegeben.

Daß Unterscheidungsfähigkeiten tradiert und weiterhin angewendet werden, besagt freilich noch nicht, daß man von ihnen auch explizit weiß. Die Sachlage, mit der man es hier zu tun hat, gleicht der, die für die Beherrschung einer Sprache kennzeichnend ist: Eine Sprache mehr oder minder korrekt sprechen können, ist eine Sache. Aber auch noch Auskunft über die allgemeinen Regeln geben, aufgrund derer sich bestimmen läßt, wann ein bestimmter Satz innerhalb einer Sprache korrekt gebildet worden ist - das ist etwas anderes. Und ähnlich verhält es sich auch mit unseren Begriffen.

Nehmen wir nur eine so weit reichende Unterscheidung wie die zwischen psychischen und nicht-psychischen Phänomenen. Die meisten von uns haben keine Schwierigkeiten, angesichts beliebig angeführter Beispiele zu entscheiden, ob es sich um Beispiele für ein psychisches Phänomen handelt oder nicht: Wahrnehmungen, Empfindungen, Gefühle, Absichten, usw., zählen dazu; Mineralienproben, Organismen, sprachliche Äußerungen, usw., hingegen nicht. Aber wären wir auch imstande, eine Regel anzugeben, die eine solche Einordnungspraxis als Teil einer mehr oder weniger allgemein beschreibbaren Struktur kenntlich werden läßt? - Da treten sogleich Schwierigkeiten auf. Und dergleichen Schwierigkeiten zu beheben, indem man sich um die Formulierung solcher Regeln bemüht, daraus besteht der bewußtmachende Teil philosophischer Überlegungen.(*8)
 
 

Die erklärende Aufgabe

 Einzelne Unterscheidungsgewohnheiten sind häufig Teile übergreifenderer Strukturen, von, wie wir auch sagen können, "Feldern" von Unterscheidungsgewohnheiten. Und diese Felder versuchen wir, uns in einer in sich stimmigen Weise bewußt zu machen, sie zu beschreiben. Doch was wir auf diese Weise gewinnen, das sind, so wichtig es auch ist, lediglich Fakten. Und Fakten provozieren dazu, danach zu fragen, warum sie so sind, wie sie sind.

 Denken wir etwa an die Begriffe, mit Hilfe derer wir physische Dinge beschreiben, und an die Begriffe, mit Hilfe derer wir Individuen beschreiben, die fähig sind, Handlungen zu vollziehen. Zwischen diesen beiden Begriffsfeldern gibt es, neben anderem, einen auffälligen Unterschied: Von den physischen Dingen - von einem Stück Metall, einem Stein, einem Kristall - sagen wir gemeinhin, daß sie von ihrem Begriff her ein bestimmter Körper "sind". Von den Individuen hingegen, die Handlungen vollziehen können, sagen wir dergleichen nicht. Hier sagen wir normalerweise nicht, daß solche Individuen - Tiere oder Menschen - ein Körper sind, sondern daß sie (wiederum von ihrem Begriff her) einen Körper "haben".

Soweit ein typisches Beispiel dafür, zu was für Ergebnissen man bei Versuchen der Beschreibung von Begriffsfeldern kommen kann. Aber verstehen wir auch, warum das so ist, was wir so beschrieben haben? Bleibt man bei den bloßen Beschreibungen, gewiß nicht. Denn um verstehen zu können, müssen wir mehr tun: Wir müssen uns auch noch darum bemühen, zu zeigen, auf welchem rationalen(*9) Wege man zu Begriffsfeldern gelangen kann, die sich in dieser Weise voneinander abheben (vorausgesetzt natürlich, daß es einen solchen Weg des rekapitulierenden, rationalen Erwerbs jener Begriffe überhaupt gibt). Und mit einer solchen Anstrengung - die in diesem Fall auf ein "klassisches Problem" philosophischer Reflexionen, das sogenannte "Geist-Materie-Problem", gerichtet ist - setzen erklärende philosophische Überlegungen ein. 

Die kritische Aufgabe

 Bleibt die kritische Aufgabe begriffsreflektierender, in diesem Sinne verstandener philosophischer Reflexionen. Was damit gemeint ist, dürfte nach dem bisher Gesagten bereits einsichtig geworden sein. Selbstverständlich sind nicht alle auf uns historisch zugekommenen Unterscheidungsfähigkeiten per se auch brauchbare, sinnvolle Unterscheidungsfähigkeiten. In bestimmten Fällen bedürfen sie der Kritik und der Veränderung.

 Vielleicht haben wir in unserer bisherigen Art, gewisse mentale Aktivitäten des Menschen als Aktivitäten des Denkens einzuordnen, etwas Wichtiges außer acht gelassen? Dann müssen wir diese Unterscheidungspraxis verändern; dann sollten wir zum Beispiel davon ausgehen, daß "menschliches Denken, von seinem Begriff her, nichts anderes ist als eine bestimmte Art der Symbolverarbeitung", so, wie man es in der gegenwärtigen Kognitionswissenschaft behauptet.

 Oder vielleicht ist es sogar so, daß manche unserer traditionellen Unterscheidungsfähigkeiten in Wirklichkeit gar keine Fähigkeiten, sondern bloße Gewohnheiten sind, Gewohnheiten gar, die uns dazu bringen, bloße Chimären in die Welt hineinzudeuten? Vielleicht empfiehlt es sich aus diesem Grunde beispielsweise, unsere bisherigen Begriffe der psychischen Phänomene durch die Begriffe immenser Ansammlungen von Nervenzellen und dazugehöriger Moleküle zu ersetzen, in der Art etwa, wie es der Nobelpreisträger für Biologie Francis Crick in seiner neuen Monographie vorschlägt, die im Deutschen den anspruchsvollen Titel Was die Seele wirklich ist erhalten hat?(*10) Usw.
 
 

Möglichkeiten zur Überprüfung der Sinnhaftigkeit von Begriffen

 Notieren wir also: Mit den von uns für sinnvoll gehaltenen und faktisch verwendeten Unterscheidungsfähigkeiten sind gleichsam die Rahmen gesetzt, innerhalb derer wir Erfahrungen über die Welt gewinnen können. Diese Unterscheidungsfähigkeiten, diese Begriffe, sind aber nicht in jedem Falle allein hinter unserem Rücken wirksam. Wir können versuchen, sie uns im Zuge "philosophischer" Anstrengungen zum Zweck der Bewußtmachung zu vergegenwärtigen, sie zum Zweck des Verstehens zu erklären, und sie zum Zweck einer Kritik und eventuellen Veränderung auf ihre Sinnhaftigkeit zu prüfen.

 Bleibt, neben vielem anderem, die Frage: woran bemißt sich dies eigentlich: die Sinnhaftigkeit eines Begriffs? Besitzen wir denn überhaupt Möglichkeiten, eine Meinungsverschiedenheit über die "sinnvolle" Ausgestaltung eines bestimmten Begriffs, einer bestimmten Unterscheidungsfähigkeit unter Anführung "guter Gründe" zu schlichten?

Es gibt nicht wenige Autoren innerhalb der gegenwärtigen akademischen Philosophie, die diese Frage verneinen würden. Daß man Gründe für etwas anführen kann, setzt, so diese Autoren, voraus, daß man sich in einem stabilen System von Regeln, und damit auch von Unterscheidungsfähigkeiten, bewegt. Und sobald man dieses System verläßt, beginne unabänderlicherweise die Willkür. Wer dies nicht einsehe, sei, wie sich leicht zeigen lasse, entweder das Opfer unerkannter Argumentationszirkel oder gerate in eine unbeendbare Aufstufung von Diskussionen über Regeln für Regeln.

Doch so verbreitet eine solche Auffassung auch ist - in Wirklichkeit ist sie, wie ich meine, zu resignativ. In Wirklichkeit verfügen wir sehr wohl über Möglichkeiten, nicht nur bei der Verwendung von, sondern auch bei der Reflexion über Begriffe Argumente auszutauschen, die man mit gutem Grund als "rational" bezeichnen darf.

Zuzugestehen ist freilich, daß die Probleme, welche bei einem solchen Unterfangen auftreten können, recht komplexer Natur sind. Ich möchte mich daher im letzten Teil dessen, was ich Ihnen erzählen wollte, darauf beschränken, einen einzigen aus einer ganzen Reihe von Punkten anzusprechen: einen Punkt, der mit der Rolle von Erfahrungen bei der Überprüfung der Sinnhaftigkeit eines Begriffs zusammenhängt.
 
 

Keine direkte Überprüfung an der Erfahrung

 Halten wir zunächst einmal fest: Eine These über die Sinnhaftigkeit eines bestimmten Begriffs, einer bestimmten Unterscheidungsfähigkeit, direkt, das heißt unter Bezug auf Erfahrungen mit den Gegenständen überprüfen wollen, die sich allein auf der Grundlage der Verwendung jenes Begriffs erst identifizieren lassen sollen - das ist etwas, was nicht funktionieren kann.

 Nehmen wir als Beispiel den Begriff für das, was uns als ein psychisches Phänomen gilt. Und stellen wir uns vor, wir hätten es mit jemandem zu tun, der eine strikt materialistische Position vertritt, das heißt mit jemandem, der, ähnlich wie Francis Crick, davon überzeugt ist, daß unser Begriff für psychische Phänomene letztlich entbehrlich ist. Und stellen wir uns des weiteren vor, wir versuchten so jemanden unter Hinweis auf Erfahrungen mit Lebewesen, die unserer Überzeugung nach psychische Phänomene zeigen, von seiner Meinung abzubringen. Der folgende kleine Argumentationsverlauf zwischen einem "Proponenten" und einem "Opponenten" mag verdeutlichen, was dabei herauskommt:
 
 

Prop.:
Unser Begriff für das, was ein psychisches Phänomen ist, ist ein sinnvoller Begriff.

 

 

Opp.:
Das bestreite ich; das ganze Gerede von "psychischen Phänomenen" usw. scheint mir problematisch und wohl nur das Relikt einer faktisch bereits schon längst überholten Metaphysik; denn letztlich, so glaube ich, besteht alles doch nur aus (physikalisch zu verstehender) Materie.
Prop.:
Aber bitte: du wirst doch nicht bestreiten, daß dies ... dort ein Mensch ist, der Schmerzen hat, und somit ein Beispiel für das Vorkommen eines psychischen Phänomens. Womit zugleich die Sinnhaftigkeit des Begriffs "psychisches Phänomen" bewiesen wäre.

 

 

Opp.:
 Aber gewiß bestreite ich dies. Was du als Schmerz, und damit als psychisches Phänomen bezeichnest, das ist für mich nur eine Abfolge bestimmter neuronaler Geschehen, die im übrigen letztlich auch nichts weiter sind als eine bestimmte Konstellation physikalisch-chemischer Abläufe.

 

 

Man sieht, woran dieser Dialogverlauf hängt: Was dem Einen in seiner Erfahrung, aufgrund der von ihm verwendeten Begriffe, so ... erscheint, erscheint dem anderen in seiner Erfahrung, aufgrund der von ihm verwendeten Begriffe, so ... Und eine Angleichung ihrer Meinungen mit Hilfe von Erfahrungen allein läßt sich nicht erreichen, weil die eigentliche Quelle ihres Konflikts nicht auf der Ebene dessen liegt, was erfahren wird, sondern auf der Ebene der - um es so auszudrücken - "Brillen", mit denen erfahren wird.
 
 

Gleichwohl spielt die Erfahrung eine gewisse Rolle

 Und doch: sollte es denn tatsächlich so sein, daß die Erfahrung bei der Überprüfung der Sinnhaftigkeit von Begriffen, von Unterscheidungsgewohnheiten überhaupt keine Rolle spielt? Das klingt, trotz des soeben vergegenwärtigten Sachverhalts, überaus unwahrscheinlich. Aber wie hat man sich die Dinge dann vorzustellen?

 Nun, vergessen wir nicht: Wenn wir die Sinnhaftigkeit einer bestimmten Unterscheidungsfähigkeit zur Diskussion stellen wollen, besagt dies selbstverständlich nicht auch schon, daß wir die Sinnhaftigkeit grundsätzlich aller Unterscheidungsfähigkeiten zur Diskussion stellen wollen. Andere Unterscheidungsfähigkeiten als die, die wir gerade erörtern, dürfen wir innerhalb einer solchen Diskussionssituation selbstverständlich verwenden, und damit dürfen wir auch die Erfahrungen, die sich mit Hilfe dieser Unterscheidungsfähigkeiten gewinnen lassen, systematisch nutzen.

Ich würde Ihnen nun an dieser Stelle gern ein Beispiel dafür geben, wie sich diese, die sozusagen indirekte Bedeutung von Erfahrungen bei der Überprüfung der Sinnhaftigkeit von Begriffen bemerkbar machen kann. Leider sind die Beispiele, die sich in diesem Zusammenhang anführen lassen, aber entweder trivial und deswegen uninteressant, oder nicht-trivial, und dann so kompliziert, daß sie nicht mit wenigen Worten widerzugeben sind. Um Ihnen trotzdem zumindest einen Eindruck davon zu vermitteln, was ich meine, möchte ich auf ein Phänomen zurückgreifen, das zwar nicht aus der Philosophie sondern aus der Wahrnehmungspsychologie stammt, aber mit dem Problem, das uns hier im Moment interessiert, einige Verwandtschaft besitzt.

Sie alle kennen Vexierbilder - jene Bilder also, auf denen zunächst beispielsweise nur ein Gewirr von Strichen zu sehen ist, bei deren weiterer Betrachtung sich dann aber mehr oder weniger abrupt das Bild eines Indianerkopfes, eines fliegenden Vogels, oder was auch immer, herauskristallieren kann. Diese Bilder, und das, was mit uns bei ihrer Betrachtung geschieht, sind theoretisch überaus interessant. Offenbar ist die Tatsache, daß wir nach einiger Zeit den Indianerkopf sehen, nämlich nicht einfach ein Resultat dessen, daß wir nun etwas auf dem Bild sehen, was wir vorher nicht genügend beachtet haben. Es ist vielmehr ein Resultat dessen, daß sich im Zuge der Betrachtung des Bildes unsere Unterscheidungsfähigkeit verändert, mit der wir an das Bild herangehen: zunächst ist es nur die Fähigkeit zur Unterscheidung zufällig angeordneter einzelner Striche, aber dann ist es die Fähigkeit, Bilder von Indianerköpfen von anderen Gegenständen unterscheiden zu können.

 Man kann sich diesen Umstand - die Tatsache also, daß wir es hier nicht mit einem Fall bloßen Erfahrungsgewinns, sondern mit einem Fall der Veränderung von Unterscheidungsfähigkeiten zu tun haben - leicht daran vor Augen führen, daß es in einigen Fällen möglich ist, willentlich von der einen Betrachtungsweise zur anderen zu wechseln. Wir können willentlich mal die Fähigkeit für die Klassifizierung von etwas als "Strich", und mal die Fähigkeit für die Klassifizierung von etwas als "Bild eines Indianerkopfes" an das Vexierbild herantragen, und je nachdem, was man tut, nimmt man eben Striche oder das Bild eines Indianerkopfes wahr.

So weit das Beispiel. Doch was ist daran nun in philosophischer Hinsicht interessant? - Philosophisch betrachtet ist insbesondere das Folgende interessant:

 Stellen Sie sich vor, Sie wollten jemanden, der momentan allein die Fähigkeit zur Identifizierung einzelner Striche, und noch nicht die Fähigkeit zur Identifizierung von Bildern von Indianerköpfen anzuwenden vermag, zu der Sichtweise des Vexierbildes bringen, die Ihnen bereits geläufig ist. Dann sind alle die Seherfahrungen, die Ihr Gegenüber zunächst einmal allein unter Verwendung der Fähigkeit zur Identifizierung von Strichen gewinnen kann, nicht unwichtig. Unter Ausnutzung dieser Möglichkeit kann man zum Beispiel versuchen, ihn auf diesen und diesen Strich der Zeichnung, auf diese oder jene Verbindung zwischen einzelnen Strichen, usw., besonders aufmerksam zu machen. Und das alles kann eine hilfreiche Stütze dafür abgeben, damit auch er schließlich den Indianerkopf sehen kann.

Freilich ist dies nicht alles. Denn was auch immer Sie mit Ihrem Gesprächspartner anstellen: letztlich wird er den Indianerkopf nur dann sehen können, wenn er sich, über alle zunächst für ihn gewinnbaren Erfahrungen an den Strichen hinaus, auch noch für fähig und dazu bereit erklärt, sich die Fähigkeit zur Identifizierung von Bildern von Indianerköpfen zu eigen zu machen.

 Und just dazu gibt es eine Parallele in den begriffsreflektierenden, den philosophischen Überlegungen. Der Konflikt zwischen dem strikten Materialisten und dem Nicht-Materialisten, von dem wir vorhin gesprochen haben, läßt sich als ein Konflikt von durchaus vergleichbarer Struktur verstehen. Zwar geht es in dem soeben erwähnten psychologischen Beispiel genau genommen um eine Veränderung unserer Wahrnehmungsfähigkeiten, als einem bestimmten, vergleichsweise stark an unsere biologische Grundausstattung gebundenen Spezialfall der allgemeinen Fähigkeit des Einordnens von etwas als etwas einer bestimmten Art, wohingegen philosophische Reflexionen nicht nur Fähigkeiten des Wahrnehmens sondern auch des Deutens von etwas als etwas zu thematisieren versuchen.(*11) Und das macht einen erheblichen Unterschied aus. Aber der Vergleich zwischen beiden Fällen ist gleichwohl geeignet, etwas Wichtiges hervortreten zu lassen.

Denn der Materialist ist ja jemand, der, sozusagen, nicht imstande und gegebenenfalls auch nicht gewillt ist, den Indianerkopf - sprich, in diesem Zusammenhang: ein einzelnes psychisches Phänomen - wahrzunehmen, weil er nicht imstande und gegebenenfalls auch nicht gewillt ist, sich den Begriff für das, was "psychisches Phänomen" heißt, anzueignen. Und ganz entsprechend auch die Argumentationsmöglichkeiten, von denen der Nicht-Materialist an dieser Stelle Gebrauch machen sollte: Er sollte versuchen, den Materialisten, im Rahmen der von diesem zunächst einmal allein zugestandenen Unterscheidungsmöglichkeiten, auf diese oder jene besondere Konstellation materieller Phänomene aufmerksam zu machen. Und er sollte zudem versuchen, den Materialisten in die Lage zu bringen und auch dazu zu bewegen, sich angesichts einer solchen Konstellation zur Übernahme des neuen, bisher von ihm nicht zugestandenen Begriffs zu entscheiden.

 Allgemein gesprochen gilt also, das wollte ich mit diesem Beispiel veranschaulichen: Es ist sehr wohl möglich, und häufig sogar unerläßlich, sich auch innerhalb begriffsreflektierender Überlegungen auf Erfahrungsbefunde, und damit also auf begriffsverwendende Überlegungen, zu stützen. Diese Erfahrungsbefunde können allerdings nur Erfahrungsbefunde sein, die sich unter Gebrauch von Unterscheidungsfähigkeiten gewinnen lassen, welche innerhalb der aktuellen Diskussionssituation unproblematisch sind. Und dafür dann, daß man die so gewonnenen Erfahrungsbefunde zum Anlaß nimmt, um sich neue Unterscheidungsfähigkeiten, neue Maßstäbe für die Klassifizierung von Gegenständen anzueignen, muß noch etwas hinzukommen: es müssen die Fähigkeit und der Entschluß hinzukommen, in Zukunft manche Konstellationen materieller Phänomene nicht mehr bloß als Ansammlungen von bestimmten Molekülen, sondern, beispielsweise, als eine Schmerzempfindung zu identifizieren. Das ist einer der Gründe dafür, warum ich vorhin davon gesprochen habe, daß recht verstandene philosophische Argumentationen aus einem kompliziertem Mixtum verschiedener Diskurstypen bestehen.
 
 

Resüme

 Ich bin damit fast zum Ende dessen angelangt, was ich Ihnen vortragen wollte. Lassen Sie mich kurz zusammenfassen:

  1. Erfahrungen, Erkenntnisse über das, was es in der Welt gibt oder nicht gibt, gewinnen wir nicht "unmittelbar", sondern nur unter Anwendung bestimmter Begriffe, bestimmter Unterscheidungsgewohnheiten: Die Wahrheit oder Falschheit einer Aussage über die Welt gilt immer nur relativ zu den in dieser Aussage verwendeten Begriffen.

  2.  

     

  3. Konflikte über die Geltung einer Meinung über die Welt können ihre Ursache entweder darin haben, daß gleiche Unterscheidungsgewohnheiten unterschiedlich verwendet wurden, oder darin, daß unterschiedliche Unterscheidungsgewohnheiten verwendet wurden. Im ersten Fall ist eine Angleichung von Erfahrungen im Zuge begriffsverwendender Überlegungen erforderlich, im zweiten eine Angleichung der Begriffe selbst im Zuge begriffsreflektierender Überlegungen: Konflikte über die Geltung einer Meinung über die Welt können aus unterschiedlichen Verwendungen gleicher Begriffe, wie auch aus der Verwendung unterschiedlicher Begriffe selbst entstehen.

  4.  

     

  5. Begriffsreflektierende Überlegungen sind nichts anderes als philosophische Überlegungen. Deren Aufgabe besteht u. a. darin, sich einmal gewonnene Unterscheidungsgewohnheiten beschreibend bewußt zu machen, sie zu erklären und sie gegebenenfalls in kritischer Absicht zu verändern: Philosophische Reflexionen sind Reflexionen zur Beschreibung, Erklärung und Überprüfung von Unterscheidungsgewohnheiten, von Begriffen.
  6. Ein Konflikt über die Sinnhaftigkeit eines Begriffs kann nicht unter Bezug auf Erfahrungen mit Gegenständen entschieden werden, die erst mit Hilfe jenes Begriffs überhaupt als Gegenstände einer bestimmten Art identifiziert werden können. Wohl aber kann beim Austragen eines solchen Konflikts der Rückgriff auf Erfahrungen wichtig werden, die man unter Anwendung anderer, aktuell nicht kontroverser Begriffe zu gewinnen vermag: Erfahrungen sind nicht direkt, wohl aber indirekt für die Überprüfung der Sinnhaftigkeit von Begriffen bedeutsam.

  7.  

     

  8. Solche Erfahrungen allein, so wichtig sie auch sind, sind allerdings nicht hinreichend, um die Sinnhaftigkeit eines bestimmten Begriffs begründen zu können. Es muß sich zusätzlich zeigen lassen, daß der Übergang zu dem jeweiligen neuen, momentan noch kontroversen Begriff nicht nur etwas ist, was sich empirisch anbietet, sondern auch etwas, wozu wir eine entsprechende Fähigkeit entwickeln können, und was wir, relativ zu unseren eigenen, wohl verstandenen Interessen gesehen, tun sollten: Die Sinnhaftigkeit eines Begriffs ist nicht nur eine Frage der - mit anderen Begriffen - gewinnbaren Erfahrungen, sondern auch a) eine Frage unserer Fähigkeiten zur Umstrukturierung unserer Unterscheidungsfähigkeiten sowie b) eine Frage dessen, welche Begriffe wir, relativ zu bestimmten Interessen von uns, vernünftigerweise weiterhin verwenden bzw. uns für die Zukunft zu eigen machen sollten.
Zusatzbemerkung zu "Interessen"

 Bleibt als letztes, neben vielem anderen, was ich nicht habe ansprechen können, die Frage, was das für Interessen sind, an die man an der zuletzt angesprochenen Stelle begriffsreflektierender Überlegungen appelliert. Zum Abschluß daher noch eine kurze Bemerkung zu diesem Punkt.(*12)

Wir Menschen sind, ich habe es bereits mehrfach erwähnt, eine höchst eigentümliche biologische Spezies: seit jener Phase in der Geschichte menschlicher Kulturen, in der es zum Entstehen der Philosophie gekommen ist, sind wir nicht nur imstande, von bestimmten Unterscheidungsfähigkeiten Gebrauch zu machen; sondern wir sind auch imstande, uns diese unsere Unterscheidungsfähigkeiten reflexiv zu vergegenwärtigen, und sie sogar an der einen oder anderen Stelle zu verändern.

 Freilich: wenn wir uns selbst so beschreiben, verwenden wir natürlich einen ganz bestimmten Begriff: eben den für Lebewesen, die zu so komplexen selbstbezüglichen Leistungen fähig sind. Aber haben wir die wichtigsten Eigenschaften dieses Begriffs bereits verstanden? Haben wir bereits verstanden, welche Implikationen sich aus diesem Begriff beispielsweise im Hinblick auf unsere materielle, biologische und kulturelle Vorgeschichte ergeben? Haben wir bereits verstanden, was für Möglichkeiten und Einschränkungen sich aus ihm im Hinblick auf unser zukünftiges Handeln ergeben? - Dergleichen Fragen wird man verneinen müssen.

Und so wird, wie mir scheint, an genau dieser Stelle das übergeordnete Interesse faßbar, an dem wir Menschen uns bei allen unseren begriffsreflektierenden, unseren in diesem Sinne verstandenen "philosophischen" Überlegungen orientieren sollten: wir haben ein gut begründbares Interesse daran, uns jenes Begriffs für die Beschreibung von uns selbst als Menschen nicht nur zu bedienen, sondern ihn auch in einer methodisch ausweisbaren Weise zu verstehen. Letztlich sollte daher alles, was wir philosophisch tun, diesem einen übergreifenden Interesse dienen: dem Interesse, eben den Begriff zu klären, mit dem wir uns als Begriffe, Unterscheidungsfähigkeiten überdenkende Lebewesen zu begreifen versuchen.

Um diesem Interesse gerecht zu werden, bedarf es allerdings, so denke ich, einer grundlegenden Revision dessen, was insbesondere von renommierten Vertretern der gegenwärtigen Analytischen Philosophie unter "philosophischen" Überlegungen - speziell im Vergleich zu empirisch-wissenschaftlichen Überlegungen - verstanden wird. Lassen Sie mich daher mit einem klassischen Satz nicht so sehr der aktuellen philosophischen Debatte, wohl aber der aktuellen Politik schließen: It is time for a change.


Über die heute zumeist vertretene Auffassung vom Verhältnis zwischen philosophischen und empirischen Untersuchungen  Warum die heute zumeist vertretene Auffassung falsch ist  Was dies mit der Philosophie zu tun hat  Unterschiedliche Formen des Entstehens von Unterscheidungsfähigkeiten 
Zwischenresüme  Zusatzbemerkung  Aufgaben philosophischer (begriffsreflektierender) Überlegungen  Die bewußt machende Aufgabe 
Die erklärende Aufgabe  Die kritische Aufgabe  Möglichkeiten zur Überprüfung der Sinnhaftigkeit von Begriffen  Keine direkte Überprüfung an der Erfahrung 
Gleichwohl spielt die Erfahrung eine gewisse Rolle  Resüme  Fußnoten